Nofretete
Pascal Bovée


by Pascal Bovée

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Residenzen

Die Grafikerin vom Stadtmarketing korrigiert den Schatten. Er ist zu klein. Oder der Förderturm doch noch zu groß. So eine Kacke. Die ganzen Verhältnisse der schönen Skyline stimmen nicht mehr, seit dieses Dreieck dazugekommen ist. Aber es darf auf keinem offiziellen Plakat und keinem Flyer, auf keiner städtischen Webseite mehr fehlen. Das höchste Gebäude in Essen wird bald eine Pyramide sein.      

Der Bauherr kommt nicht aus Ägypten, der Bauherr heißt Tech-Nick und macht was mit Medien. Man hätte es nicht zu träumen gewagt, aber es ist wahr: Saturn baut in Essen seine neue Zentrale. Eine Pyramide, die funkelt, aus blauem Glas. Um jedes der 21 Stockwerke, eins für jedes Jahrhundert einer Zeitrechnung, die bald enden könnte, ziehen sich vier dunkelblaue, konzentrische Quadrate aus Stahl, das sind die Stufen. Beim Hinaufsteigen färben LED Stufe für Stufe orange. So hat es sich zumindest David Chipperfield gedacht. Da die Stufen für menschliche Beine aber zu hoch geraten sind, entfällt der Effekt und es gibt eine Rolltreppe. Sie ist ebenfalls orange. Zwar gerade so nicht breit genug, um nebeneinander stehen oder einander überholen zu können, aber weil oben keine Züge abfahren, stört das niemanden wirklich.

Von den Essenern wird das Gebäude überhaupt sehr gut angenommen. In der Freizeit sitzen sie auf den Pyramidenstufen und trinken Bier und Fassbrause. Am vierten Stock dürfen Jugendliche Tags auf die Fassade sprayen, die größten sind EIER und KLUPP. Der Ring um die sechste Etage ist für Urban Gardener freigegeben, der elfte für Jogger, die mit In-Ears ihre Bahnen um den Saturn ziehen, in dieser Höhe bereits mit Ausblick über die Dächer der Stadt. Die meisten schauen aber lieber durch die Glasfassade ins Innere der Pyramide. Hier werden High End Bluetooth Speaker verkauft. Eine ganze Reihe von Etagen weiter oben ist dem Tourismus gewidmet. Um die fünfzehnte kann man in einer Wasserrinne eine Kreuzfahrt mit Selfiestick machen. Gezielt wirbt Essen jetzt um Ägyptenurlauber. »Keine Lust auf Krokodile? Pyramiden gibt's nicht nur am Nil«. Am Nile hieß es ursprünglich, jedenfalls in der Büttenrede, aus der der Slogan entnommen wurde. Aber Reimen in der Werbung ist nicht mehr zeitgemäß, hat die PR-Agentur rechtzeitig gewarnt, bevor der Slogan in die Urlaubsprospekte gedruckt wurde.

Ganz oben auf dem Pyramidendach darf natürlich ein Swimming Pool nicht fehlen. Er ist aus ehemaligen Spundwänden im Suez-Kanal geschweißt. Im Wasser werfen sich pubertierende Jungs eine Gummipille ins Gesicht, die Mädchen verdrehen auf dem Handtuch die Augen und tippen Nachrichten, der Lehrer lacht. Ich setze mich auf den Beckenrand, hole mein Notizbuch heraus und schreibe eine Kolumne. »Essen hat 'nen neuen Pharao«, zitiere ich gleich mal die Punks, die in der Fußgängerzone Seifenblasen und kluge Sprüche machen. Ab und zu muss ich den Kopf einziehen wegen des Balls.

Sie ahnen es: Das Gebäude ist so albern, weil ich es geträumt habe. Auf dem Weg nach Steele sind mir in der S-Bahn die Augen zugefallen. Beim Aufwachen habe ich alles ganz schnell in mein Büchlein gekritzelt, hatte aber schon die Hälfte wieder vergessen. Woher die orange Rolltreppe oder das geschweißte Schwimmbecken kommen, weiß ich deshalb nicht mehr. Aber zu Saturn fahre ich wirklich. Nach Steele.

Heute morgen am Essener Hauptbahnhof neben Yorma's habe ich beim Einlösen meiner Kaffeesparkarte zwei Jungs zugehört.

»Habter schon gezockt?«

»Mit Auba viermal eingetütet.«

»Ja, hättste ma wat gesacht!«

»Freitach wieder, wenn de Bock hast.«

 »Auf jeden Fall! Lassma WhatsApp.«

Zum ersten Mal ärgere ich mich wirklich, dass ich kein WhatsApp habe. Samstag ist Derby und ich will auch mitzocken. Zuhause hab ich zwar eine alte Playsie, die mir ein Freund geschenkt hat, aber FIFA nur in einer Superalt-Version. Ohne Goretzka und Dembélé kann ich das Derby ja unmöglich realistisch vorzocken.

In Steele ist der Saturn nicht am höchsten. Direkt daneben ragt die Kaiser-Otto-Residenzin den Himmel, ein gelb gekacheltes Seniorenwohnhaus. Auf der Brücke vom S-Bahnhof zum Ortskern grüßt mich Tech-Nick in seinem blauen Hemd von einem Plakat. Wann und wo ich will, könne ich einkaufen, quatscht er mich direkt mal an. Ich will hiereinkaufen, sage ich. Und jetzt. Am Samstag ist Derby und ich hab kein aktuelles FIFA. Ausgerechnet hier und jetzt einzukaufen scheint aber in diesem Saturn nicht so einfach zu sein. Eine direkte Treppe zum Medienkaufhaus endet vor einer Wand. Jemand namens »Allah« hat sein Tag darauf hinterlassen. Der kann womöglich durch die Mauer, aber ich muss umdrehen. Eine lange Treppe führt mich zwischen Kaiser Otto und dem »Globus Center«, in dem der Saturn untergebracht ist, herab. An ihrem Ende bleibe ich vor einem Reisebüro stehen.

Ein Regal mit Schneegläsern aus Ferienorten im Schaufenster erinnert mich an meinen letzten Besuch im Keller meiner Eltern, wo meine eigene Sammlung winterlich-touristischer Mini-Orte seit meiner Pubertät vor sich hin dunstet. Ein Tümmler in einer Kugel aus dem Dolfinarium Harderwijk, den ich als Kind besonders mochte, muss inzwischen ohne Wasser auskommen. Manchen Ferienorten hier im Schaufenster geht es kaum besser. Folgen des Klimawandels? Nofretete liegt schon auf dem Trockenen. Auch Las Vegas glitzert ohne Nass nicht mehr so verführerisch. Neben einem Eiffelturm steht Goofy, der ungefähr gleich groß ist und schaut sich um, als würde er auf jemanden warten. Auf Cinderella? Ich schaue mich ebenfalls um und sehe anstelle von Schneewittchens Schloss nur wieder Kaiser Ottos Residenz. Auch die hat Türme, elf Stöcke gelbe Platte. In der Sonne beinahe schön, mit den Kirschblüten davor. Aber Disneyland gibt es in Steele nicht.

Ich biege um das Globus Center herum und werde gebeten mir mein Lieblingskennzeichen zu überlegen. Neben dem Medienkaufhaus gibt es in dem Gebäude nämlich eine KFZ-Zulassungsstelle. »E MO 1« wäre gerade im Angebot. Wäre ich der erste Emo, was für ein Auto würde ich fahren? Eins mit Tapedeck jedenfalls, es liefen Get Up Kids, egal wie sehr die Kassette inzwischen leiert. Ein Auto, das noch aus der Prä-Kassettendeck-Ära stammt, parkt am Eingangsbereich zum Bürgeramt/Saturn. Es gehört Fred Feuerstein und hat noch kein Kennzeichen. Gegen Einwurf einer Münze würde es mich fahren, läge das Kabel nicht ausgestöpselt auf dem Boden daneben. Fred sitzt am Steuer und scheint mir auf sein Nummernschild zu warten. Ich frage mich, für welches Kennzeichen er sich entschieden hat, als ich das Globus Center betrete. Vor der Rolltreppe, neben dem Schild »Bürgeramt«, liest ein Staubsaugerteileverkäufer seine Zeitung. Hinter ihm führt eine Rolltreppe hinab. Theoretisch, denn sie ist mit einem Metallverschlag versperrt. Aber zu Saturn geht es nach oben.

Die Flatscreens zeigen alle ein Massagevideo. In einem Regal davor gibt es Chai-Latte-Pads. Rooibos-Karamell mit extra Milchkapsel. Aber auf geheuchelte Entspannung lasse ich mich nicht ein, sondern halte direkt auf die Game-Abteilung zu. Ich sehe das Regal schon, aber der Gang ist etwas eng und zwischen mir und FIFA stehen Killian und seine Oma, die sich Super-Mario-Plüschtiere anschauen.  

»Wer ist denn nochmal Mushroom?«

»Das ist der böse Pilz, der blinken kann.«

»Ah. Der ist aber teuer.«

»Manche können nicht blinken. Der Mushroom ja.«

Die alte Dame sieht, dass ich vorbei möchte und nutzt die Gelegenheit.

»Wir müssen mal weiter jetzt, Killian. Der junge Mann möchte hier auch schauen.«

»Hast du nicht genug Geld für den Mushroom?«

Mitleidig lächelnd schlängle ich mich zwischen Großmutter und Enkel hindurch, denn hinter dem Plüschtierkorb habe ich etwas funkeln sehen und kann nicht mehr warten.

Wow! Ein goldener Controller? Und mit Dual Shock? Dual Shock sind »zwei Vibrationsmotoren, die das haptische Feedback verstärken.«  Also, ich bin ja wirklich nicht konsumgeil, echt – aber Dual Schock? In Gold? Und das für schlappe 64,99? Das sind ja gerade mal fünf Euro mehr als der Controller in weiß gekostet hat.

»Nein, soviel Geld hat die Oma nicht.«

Die alte Frau klingt wie mein Gewissen, auch wenn sie eigentlich mit ihrem Enkel spricht: »Entweder Controller oderneue FIFA-Version, beides geht natürlich nicht, Pascal!« Naja, ich kann das Goldstück ja erstmal nur so mitnehmen. Testen, wie es in der Hand liegt, während ich zu den Spielen weitergehe.

Natürlich suche ich nur nach den Sport Games, ich will ja das Derby vorzocken, sonst wäre ich ja heute gar nicht in einem Saturn anstatt meine Kolumne zu schreiben. Aber meine Aufmerksamkeit will jetzt auf einmal ein blondes Girl im Bikini haben. Lollipop Chainsaw heißt es und zerschneidet mit der Kettensäge Zombies. Lässig mit Lutscher im Mund. »Eine actiongeladene Fahrt durch ein zombieverseuchtes Blutbad« verspricht mir der »Kult-Gamedesigner Suda 51« auf der Spielverpackung. Killians Oma kann froh sein, dass er sich noch für blinkende Kuschelpilze interessiert.

Aber anscheinend nicht nur. Da vorne ist der hartnäckige Enkel schon wieder aufgetaucht und hält Marco Reus in der Hand. Fasziniert betrachtet er sein Armtattoo.

»Da haben wir ja Glück«, sagt die Oma. »Ist das letzte.«

Das letzte? Ich muss handeln. Dass ich das Mädchen mit der Kettensäge noch in der Hand halte, ist die Gelegenheit.

»Schau mal«, sage ich zu Killian und drücke ihm das Spiel in die Hand. Lollipops Brüste sind sehr notdürftig in eine amerikanische Flagge verpackt.

Der Junge macht noch größere Augen als bei dem Tattoo von Marco Reus. Das FIFA-Spiel nehme ich solange entgegen. Es interessiert ihn auch schon gar nicht mehr. Aber seine Oma. Die ist zwar langsamer als ich, bei dem Regal mit dem Chai Latte hänge ich sie ab, aber an der Kasse steht eine Schlange, spätestens da holt sie mich wieder ein. Was, wenn ich das Bezahlen überspringe? Für FIFA undden goldenen Controller habe ich ja sowieso zu wenig Geld. Kein Ladendiebstahl, für den ich gerne auf einer Wache landen würde, aber schlimmer als einen schätzungsweise Elfjährigen für ein sexistisches Metzel-Game zu interessieren, das er jetzt unbedingt haben will, ist es auch nicht. Ich erzähle hier mal nicht, wie ich aus dem Steeler Saturn rausgekommen bin. Und wo ich mich seitdem versteckt halte.

Außer FIFA 17 besitze ich jetzt eine Virtual-Reality-Brille. Ich setze sie nur noch ungerne ab. Das ist meine Lieblingsrealität: Ich laufe über ein Kopfsteinpflaster, irgendwo in der Grünen Mitte. Vor mir türmt sich, von blauen Quadraten umringt, eine gewaltige Glaspyramide auf. Oben über der Spitze schwebt ein Hologramm des Planeten mit dem Staubring. Ich gehe darauf zu, laufe direkt in die Zukunft hinein. In gigantischen Schritten nehme ich die Treppenstufen zum Saturn. Sie leuchten orange, als ich darauftrete. Stufe für Stufe, Medium für Medium, steige ich nach oben, über Graffitti hinweg, Tag, Hashtag, durch urbane Gärten, zwischen Joggern vor Schaufenstern hindurch, an Bluetooth Speakern und Nilkreuzfahrten vorbei – bis ich ganz oben stehe. Ich greife mitten in das Hologramm des Saturn und halte das Heiligtum in der Hand: Meinen goldenen Controller. Mit Auba tüte ich fünfmal ein. Gerade will ich ein Sieger-Selfie machen, da fliegt mir ein nasser Ball an den Kopf.

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