Klein anfangen, wenn du ein Ende suchst. Kleiner Essener heißt der Stadtplan, in dem ich suche. Zunächst mal nach der Stadtgrenze. Ich will schauen, ob man dort einen Unterschied erkennt zur Nachbarstadt. Insgeheim unterstelle ich bereits, dass das nicht so ist – wie die meisten Forschenden, weiß ich eigentlich schon im Voraus, was ich rausfinden möchte. Mein unwissenschaftliches Vorhaben lässt der kleine Essener aber nicht mit sich machen. Anstelle der Stadtgrenze zeigt mir der Stadtplan eine Liste: 25 mal Sehens- und Erlebenswertes in Essen. Nummer eins ist gleich die erste Überraschung: das Rathaus. Panoramaetage (22. Etage) in 100m Höhe,heißt es im Beschreibungstext, von der sich ein herrlicher Fernblick auf Essen und das Ruhrgebiet bietet.
Ich kenne Essens Sehenswürdigkeiten offensichtlich noch nicht so gut. An Stelle eins hätte ich die Zeche Zollverein erwartet. Doch die ist im Ausschnitt, den die Karte wählt, nicht einmal abgebildet, ebenso wenig wie die Villa Hügel und der Baldeneysee. Das Rathaus also. Ich gebe zu, ich bin ziemlich irritiert. Bisher hatte ich das Rathaus nur aus der Entfernung wahrgenommen, als hohen, schwarzen Block, der mich an den Monolithen aus Odyssee 2001 erinnert hat. Dunkel, mysteriös und irgendwie am falschen Ort gelandet.
Aber vielleicht sollte ich die Suche nach Essens Endenicht so horizontal verstehen. Eine Stadt hört ja nicht nur an Längen- und Breitengraden auf. Vielleicht ist gerade diese Panoramaetage im Rathaus der eigentliche Ort, wo sie endet. Essen muss ja schließlich auch eine Obergrenze haben.
Ich telefoniere mit Marc, einem Freund, der Philosoph ist und seit kurzem Neu-Essener. Bestimmt kann er mir helfen den Begriff Endezu definieren und die Frage zu beantworten, ob das Rathaus damit etwas zu tun haben könnte. Wie immer stellt er erstmal eine Gegenfrage. „Kann es sein, dass dieses Rathaus eine Shopping Mall ist?“ Marc ist nicht nur Philosoph, sondern auch sehr internetaffin und hat parallel zu unserem Gespräch bei Google Maps nach dem Rathaus geschaut. Ich antworte ihm, dass die Perspektive der Google-Karte täuscht. „Essens Rathaus ist keine Mall. Es liegt bloß in einer Mall.“
Einer Galerie, um genau zu sein, so viel Stil hat die Stadt sich bewahrt. Als Marc aufgelegt hat, bin ich unzufrieden. Jetzt habe ich mehr offene Fragen als vorher, wie soll man da ein Ende finden? Ich komme ins Grübeln. Die Einkaufsstadt sind die ersten Worte, die Neuankömmlinge am Essener Hauptbahnhof lesen, kurz nachdem sie aus dem Zug den schwarzen Monolithen im Stadtkern gesehen haben. Andere Städte sind Beethovenstadt oder Universitätsstadt. Aber ich will nicht unfair sein. 2010 war Essen (für das Ruhrgebiet) auch mal kurz Hauptstadt. Auch eine aktuelle Bewerbung als temporäre Hauptstadt war wieder erfolgreich. Diesmal sogar umweltfreundlich. Wer möchte da noch mosern? Ich nicht. Aber irgendwie habe ich jetzt diesen Floh im Ohr, dass es hier in Essen nur ums Kommerzielle ginge. Das kann ich nicht einfach so stehen lassen. Ich beschließe, in die Rathausgalerie zu fahren. Vielleicht liegt dort das obere Ende der Stadt und wenn nicht, kann ich zumindest klären, ob der Monolith aus 2001 Rat- oder Kaufhaus ist.
Aus der U-Bahn kommend fahre ich die Rolltreppen nach oben und stehe vor einer weiteren Rolltreppe mit einem pink glitzernden Eingangsschild: Olymp und Hades. Eine Rolltreppe in die Antike, das ist genau das, was ich brauche. Damals, heißt es immer, war die Stadt noch überschaubar. Leider sind Olymp und Hades kein Ort der Erkenntnis, sondern ein Geschäft mit Leggins und Techno. Rückwärts fahre ich wieder hinaus und stoße gegen einen alten Mann, der sinnierend neben der Rolltreppe wartet und mich mit den Fingern in seinem krausen Bart an Marc (oder irgend einen anderen Philosophen, einen von den griechischen) erinnert. Der kommt mir wie gerufen. „Ist dieses Rathaus ein Ort der Demokratie oder des Kaufens?“ frage ich ihn frei heraus, aber er schaut nur unverständlich. „Haben Sie nicht wenigstens eine Ihrer kritischen Gegenfragen parat?“, provoziere ich ihn. „Rathaus oder Kaufhaus?“ Vielleicht spricht er nur Griechisch. Der Mann zuckt mit den Schultern: „Wo liegt der Unterschied?“
Gute Frage. Für die Antwort blättere in einem Aufsatz von Kristin Ross, den ich mir zu diesem Zweck mitgenommen habe. Demokratie, lese ich vor, als Name für den Kampf gegen die fortwährende Privatisierung des öffentlichen Lebens. Der Grieche zuckt erneut mit den Schultern. Ich beschließe, mich nicht weiter mit Theorie aufzuhalten und mache mich schnell auf die Suche nach dem Rathauseingang. Verwirrt vom Geblinke des pinken Olymps und einer Gruppe laut lachender Teenager oben auf dem Berg nehme ich den erstbesten Weg und biege nach rechts. Ich irre durch endlose Korridore, vorbei an Masken tragenden venezianischen Gondolieren, die als Herbstdekoration durch die Galerie fahren, vorbei an Mauern aus Kartons mit neonfarbenen Discountschuhen, an blauen und silbernen Zuckergussbergen auf Donutmischungen. Mit angehaltenem Atem stoße ich durch eine dichte Parfümwolke und verliere im Nebel die Orientierung. In einer Spiegelung an der blank gewienerten Wand vor mir sehe ich seitenverkehrt das Emblem einer Supermarktkette. Hier ist der Eingang zum Rathaus.
Plötzlich beschleicht mich ein düsterer Gedanke. Politik und Kaufen, gehören die tatsächlich zusammen?
Was wenn man an diesem Ort politische Entscheidungen kaufen könnte wie Lebensmittel in einem Supermarktregal? Wir haben unsere Politik schlecht verkauft, habe ich die Worte eines Parteivorsitzenden nach seiner Wahlniederlage im Ohr.
Ich gehe ins Rathaus, ich will jetzt nach oben, ich muss die Perspektive wechseln. Da oben über der Stadt, in der Panoramaetage, wird sich alles aufklären, das spüre ich. Ich denke an diese italienische Astronautin, Samantha Cristoforetti und die Fotos, die sie aus der ISS von der Erde gemacht hat. Ein herrlicher Fernblick auf Essen und das Ruhrgebiet. Von oben werde ich sehen können, wo die Grenzen der Stadt liegen. Und die Antwort finden, ob es eine Einkaufsstadt ist.
Wer vom Rathaus aus ins Orbit will, kommt zuerst in eine Empfangshalle. Braun. Fettleibige braune Säulen, Wandvertäfelungen aus Holz, auch die Deckenpaneele: braun. Auf dem Fußboden Fliesen, bräunlich gefleckt und klobige Quader zum Sitzen. Braun. Ein hohler Baumstamm als wulstige Skulptur. Ich gehe besser schnell zum Aufzug. Links daneben werde ich von Widerständen und Drähten hinter Plexiglas angezogen. Die sogenannte Linzer Klangwand, ein „musikalisch-kybernetisches Objekt“ von 1980, das angeblich bei jeder Bewegung vor seinen Fotozellen elektronische Musik erzeugt. Ich mache möglichst unauffällig ein paar Sidesteps nach links, dann nach rechts, aber hören kann ich nichts. Die Zukunft ist, seit damals, etwas in die Jahre gekommen. Das zeigt sich auch im Lift, der ein wenig an eine Raumkapsel aus den 60ern erinnert. Im Fahrstuhlschacht pfeift gellend der Wind. Womöglich geht es auf dem Weg nach oben nur noch weiter in die Vergangenheit zurück?
Der silberne Metallkasten wackelt gefährlich als ich hinaufgeschossen werde. Es herrscht Druckabfall, ich kann meinen Herzschlag hören. Wo werde ich landen? Einundzwanzig Etagen bis ins Orbit, aber in wenigen Sekunden werde ich da oben sein, im Orbit, ein ganzer Planet zu meinen Füßen. Die elektrischen Türen schieben sich auf: Ordnungsamt. Zwischen Stadt und Weitblick liegt ein Amt, aber ich bin jetzt fast da. Ich schlängle mich durch röhrenartig schmale Gänge, gehe direkt auf eine Scheibe zu, die am Ende des Korridors weiß leuchtet. Von hier blicke ich hinab. Tatsächlich, ein bisschen ist es wie im All: Kleine gelbe Robot-Raupen ganz weit unten, die aussehen, als würden sie schlafen. Das ist das Depot der Essener Verkehrsbetriebe. Aber der Ausschnitt, den dieses Bullauge zeigt, ist viel zu klein, um Essens Ende sehen zu können. Das Fenster ist keinen halben Meter breit. Panorama ist etwas anderes. Ich schaue noch einmal in den Stadtplan: 22. Etageheißt es da. Ich bin aber erst auf einundzwanzig. Höher ging es mit diesem Metallkasten nicht. Im Röhrenlabyrinth des Ordnungsamtes suche ich hastig nach einem Treppenhaus. Hinter einer schweren Stahltür finde ich es tatsächlich. Die Treppen führen noch weiter nach oben, mein Puls wird schneller, ich nähere mich der ISS-Perspektive auf das Ruhrgebiet und werde erstaunliche Fotografien machen können, genau wie Samantha Cristoforetti, Fotos, auf denen man die Stadtgrenzen erkennen kann und es in klaren Konturen vor sich sieht: Essens Ende.
Leider ist der Orbit vergittert. Im Ordnungsamt erklärt mir eine Mitarbeiterin, dass sie zum Panorama keinen Schlüssel habe. „Sie können mal unten am Empfang fragen. Ich weiß nicht, ob es zum Besichtigen vielleicht Termine gibt. Oder ein Formular, mit dem Sie sich anmelden können.“ Termine? Formular? Das klingt nach kommunalem Ausweichmanöver, aber ich lasse mich jetzt nicht mehr aufhalten, so kurz vor dem Ziel, das nur noch ein kleiner Schritt für mich ist, aber ein großer für Essen (und das Ruhrgebiet). Todesmutig steige ich ein zweites Mal in die klapprige, silberne Raumkapsel, versuche meinen Herzschlag, der sich schon wieder beschleunigt, zu ignorieren, doch ich habe mich verschätzt. Die Fahrt hinab, die in dieser Geschwindigkeit nichts anderes als freier Fall sein kann, ist zu viel für mich. Viel zuviel. Das Blut in meinem Kopf fällt langsamer als mein Körper, ich sehe Sternchen, begreife plötzlich, warum unten ein Defibrillator an der Wand hing, er verschwimmt vor meinen Augen mit Buchstaben, den Buchstaben aus einer morgens überflogenen Randnotiz, eine Studie aus Toronto sagt, dass Herzanfälle in hohen Gebäuden besonders gefährlich sind, nicht einmal 0,9% ist meine Überlebenswahrscheinlichkeit, rechne ich aus in den Sekundenbruchteilen, die mir noch bleiben – und falle im Erdgeschoss wie ein Meteoritenklumpen aus dem Fahrstuhl.
Unfähig zu einem klaren Gedanken stolpere ich benommen vorbei am Herzmassagegerät, torkle hinüber ins schaumige Braun der Empfangshalle, vorbei an der verzerrt lächelnden Dame am Tresen, gleite hinaus in die hell erleuchtete Mall und weiter durch die dichte, glitzernde Parfümwolke, um mich drehende Sonderangebote, venezianische Masken, pinke Schriftzeichen, der Techno-Olymp. Auf dem Handy Google Maps checkend laufe ich erneut gegen den bärtigen Platon an, der mich fragt, ob ich jetzt die Gemeinsamkeit zwischen Kaufhaus und Demokratie verstünde. „Lass mich in Ruhe mit deinen Fragen, die keine Antworten mehr brauchen“, rufe ich. „Fahr doch selbst mal mit diesem Fahrstuhl und such das Ende!“ Und stellvertretend für alle in der Mall schleudere ich rhetorische Fragen zurück. „Musst du nie einkaufen gehen? Kannst du dir nicht vorstellen, dass die Essener Beamten das praktisch finden?“ Aus einem Angebotsständer greift der Grieche mit ausladender Geste ein Buch und schlägt es auf. Er trägtmit Inbrunst ein Gedicht von Rimbaud vor: „Ausverkauf.“ Mir schwirrt der Kopf und ich versuche den Philosophen zu stoppen, indem ich eine Maxi-Packung bunt gemischter Donuts kaufe, die ich ihm wütend entgegenschleudere, unterstützt von den johlenden Teenagern auf dem Olymp. Doch der bärtige Grieche liest weiter, nun mit bebender Stimme Kristin Ross zitierend. Seine sonoren Worte, diese tiefe Bässe aus dem Olymp, überrollen mich wie eine Druckwelle, treiben und stoßen mich rückwärts durch die Glastür hinab auf die Rolltreppe, die in Essens Unterwelt führt. Ich sinke, falle tiefer, stürze vorbei an mich beschimpfenden Obdachlosen, an mich auslachenden Kunststudenten, rutsche durch die offenen Wände einer Baustelle hindurch, noch weiter nach unten – und sitze schließlich in der U11.
Ich sitze. Dass die U11 weder die ISS ist noch in meine Richtung fährt, ist mir egal. Ich schreibe eine Nachricht an Marc. Wenn du ins Rathaus gehst, es gibt einen Seiteneingang ohne Geschäfte.