#ResidencyInsights
Sprungbrett < > Tanzrecherche NRW
Bahar Gökten, Lin Verleger, Viola Luise Barner
by
Fabio Neis
Themen
Residenzen
Einblick in Studio 1 // Urban Dance & Partnering
1. Unter ›zeitgenössischem Tanz‹ wird gemeinhin eine choreographische Tanzkunst der Gegenwart verstanden, die sich auf einer Bühne vollzieht. Abseits hiervon versammelt der ›Urban Dance‹ unzählige Stile, die popkulturell hochgradig aktuell sind, gegenwärtig jedoch wenig auf den Bühnen der Republik zu finden sind. Würdet ihr sagen, dass sich ›Urban Dance‹ schon seiner Herkunft wegen dieser Ausrichtung entzieht, insofern Bühnenauftritte hier kaum anvisiert werden, oder ist der Umstand, dass ›Urban Dance‹ eher in Musikvideos, Clubs und Tanzstudios zu finden ist, womöglich auch einem kulturpolitischen, institutionellen Leerstand in Hinblick auf diese Tanzkunst geschuldet?
Zu urbanem Tanz gehören beispielsweise ›Breaking‹, ›Popping›, ›HipHop‹, ›Locking‹ oder ›Waacking‹ - Tanzkulturen städtischen Ursprungs, die sich stark von ihren jeweiligen Musikrichtungen ausgehend entwickelt haben und jeweils eigene kulturelle Praktiken und spezielles Bewegungsvokabular mitbringen. Die Plattform der Präsentation dieser Tanzformen ist in erster Line nicht die uns bekannte Bühne, sondern der sogenannte ›Cypher‹, ein vom Publikum oder anderen Tänzer*innen geformter Kreis. In diesem präsentieren die Tänzer*innen nacheinander ihre Soli, mit dem Ziel, einen eigens erarbeiteten Stil zu zeigen und sich mit einer innovativen und individuellen Bewegungssprache von anderen abzuheben. Auch wenn hierauf ein starker Fokus gelegt wird und das Individuum im Vordergrund zu sein schein, ist ein wichtiger Aspekt des urbanen Tanzes – also das, was das Ganze trägt – eine weltweit vernetzte, solidarische Gemeinschaft dieser Tanzkulturen. Ob nun im Musikvideo, im Club, in den lokalen Jugendhäusern oder im Tanzstudio, die urbanen Tanzstile entwickeln sich auf der Basis mitgetragener Werte und Traditionen ständig weiter und leben von dem Aufgreifen aktueller Einflüsse und der Interpretation neuer Generationen. Wenn also unter ›zeitgenössischem Tanz‹ eine choreographische Tanzkunst der Gegenwart verstanden wird, ist dann urbaner Tanz nicht zeitgemäßer denn je?
Gemeinsame Kreationen von Choreographien sind fester Bestandteil der Tanzformen, jedoch im Rahmen ihres jeweiligen kulturellen Kontexts. Dennoch entzieht sich der urbane Tanz nicht der Bühne. Der Kontext verändert sich nur und damit auch die Art und Weise wie beispielsweise mit einem bestimmten Bewegungsvokabular oder kulturellen Praktiken gearbeitet werden muss. Wir sind in unserer Recherche immer wieder bei der Fragestellung gelandet, inwiefern der urbane Tanz die urbanen Szenarien braucht, um seine Charakteristika beizubehalten - was macht den urbanen Tanz überhaupt urban?
Die urbane Tanzszene in Deutschland hat enormes Potential und existiert nicht seit gestern. Sie existiert nahe so lang wie beispielsweise in Frankreich, wo allerdings der urbane Tanz auf den Bühnen der ›Hochkultur‹ schon längst angekommen ist. Wieso nicht auch hier? Auf deine Frage ob dies einem kulturpolitischen, institutionellen Leerstand im Hinblick auf die urbane Tanzkunst geschuldet ist, wollen wir mit einem Wunsch an beide Seiten antworten: bitte mehr Dialoge und Schnittstellen! Fragt, was ihr nicht wisst, hört zu, lernt euch kennen! Es gilt, die Hürden des Unwissens zu überwinden und Platz zu schaffen für unkonventionelle Produktionen, die frei sind, sich selbst noch zu erproben, so wie wir es im Rahmen der ›Sprungbrett‹-Residenz erfahren konnten. So gehen wir in einen Diskurs und künstlerischen Austausch, der Toleranz fördert und ein enormes kulturelles Potential hat.
2. Während eurer Residenz erforscht ihr Bewegungskonzepte wie das ›Partnering‹. Wie lassen sich solche Elemente in den ›Urban Dance‹ integrieren und welche Bedeutung hat Körperkontakt hierbei, wenn beispielsweise Breakdance, auch ›Breaking‹ genannt, eher als wettbewerbsorientierter ›Battle-Tanz‹ eingestuft werden kann, der in der Regel ohne direkten Körperkontakt auskommt?
Kommt es zu einer tänzerischen Zusammenarbeit im ›Breaking‹, aber auch generell im urbanen Tanz, fehlt meist der Körperkontakt. In Choreographien sind die Körper nebeneinander und hintereinander aufgereiht, dienen als Absprunghilfe für akrobatische Elemente oder manipulieren sich durch vorgetäuschte Impulse. Doch was passiert wenn man den Impuls wirklich zulässt? Sich einlässt, auf das Abgeben von Gewicht, das Annehmen von Gewicht? Wir haben verschiedene Bewegungskonzepte für Partnering im urbanen Tanz erprobt, von denen sich einige rein technisch auch in anderen Tanzstilen anwenden lassen.
Die urbane Ästhetik, die wir beim Erforschen dieser Konzepte beibehalten konnten, geht von unser eigenen, langjährigen Erfahrung im urbanen Tanz aus. Sie kann deswegen nicht als spezifisch urbanes ›Partnering‹-Konzept definiert werden. Beispielsweise ist der Tanzstil ›Breaking‹ - bestehend aus den unter anderem im Stehen getanzten Schritten ›Top Rocks‹, der Bodenarbeit ›Footworks‹, dem auf einer Körperstelle oder entlang einer Körperachse rotierenden Elementen ›Powermoves‹ und dem abschließenden Verharren in der Position des ›Freeze‹ - in erster Linie ein wettbewerbsorientierter ›Battle-Tanz‹. Die Elemente sind als sehr individuelle Bewegungsformen konzipiert und erst mal schwierig mit einer weiteren Person in Körperkontakt zu verknüpfen.
Wir haben viel gemeinsam ausprobiert, mussten manche Versuche auch aufgeben und konnten dafür neuen Ideen nachgehen. Dabei haben wir darauf geachtet, wirklich miteinander in Verbindung zu stehen, voneinander abhängig zu sein und/oder die Bewegungen anhand von Impulsen eines Partners erstehen zu lassen. Es erfordert einfach sehr viel Zeit, um beispielsweise der Virtuosität und Dynamik, die ›Footwork‹ in der individuellen Ausführung haben kann, in direktem Kontakt mit einer anderen Person gerecht zu werden. Wir glauben aber ansatzweise herausgefunden zu haben, wie das möglich gemacht werden kann.
Es fühlt sich zwischen uns keinesfalls fremd/ungewohnt an, miteinander zu tanzen anstatt gegeneinander – das gegeneinander ist eben oft auch ein anderes miteinander! Gleichzeitig lässt die intensive Auseinandersetzung mit einer weiteren Person, in der sonst so gewohnten individuellen Kreation des eigenen Tanzes, hier klar einen neuen Ausdruck entstehen, der in der Form in der Praxis des ›Breaking‹ nicht üblich ist.
3. Sind im Zuge eurer zweiwöchigen Residenz gewisse Fragestellungen aufgekommen, die ihr weiter ausarbeiten möchtet und könnt ihr euch vorstellen, eure theoretischen Überlegungen und praktischen Studien in ein Bühnenstück zu übersetzen?
Die ursprüngliche Fragestellung war, ob es eine Art ›urbanes Partnering‹ gibt oder geben kann. Dieser Ausgangspunkt hat uns zu weiteren grundlegenden Fragestellungen geführt und spannende Diskussionen ausgelöst. ›Partnering‹ im urbanen Tanz existiert, aber die Formen und Intentionen unterschieden sich vom zeitgenössischen Tanz, beispielsweise durch ›Counterbalance‹ und Kontakt-Improvisation. Davon inspiriert sind nun einige Konzeptideen entstanden, doch um Techniken im ›Partnering‹ anhand urbaner Tanzelemente auszuarbeiten und weitere Techniken zu finden, ist ganz klar eine längere Recherche notwendig.
Interessant in der Zusammenarbeit war es, zu sehen, was diese Recherche, eingebettet in die Konstellation von genau uns drei unterschiedlichen Menschen und Bewegungssprachen, hervorgebracht hat. Wir haben zwar eine gemeinsame Basis im urbanen Tanz, doch bringen wir einzeln auch weitere Elemente wie etwa ›Capoeira‹ mit. Wie diese weiteren Spezialisierungen die Verknüpfungen von Bewegungen und die Verhältnisse im Raum und im Miteinander verändert haben, war ebenso spannend zu sehen.
Es ist also definitiv in unserem Interesse, diese Bewegungskonzepte und die während der Residenz gemachten Erfahrungen in Zukunft weiterhin zu vertiefen. Wir können uns sehr gut vorstellen, dafür eine Struktur auf der Bühne zu finden, die einen real-simultanen und im Moment entstehenden Austausch fördert, gleichzeitig gefällt uns auch die Idee, ein Workshop-Format zu entwickeln, in dem wir ausgearbeitete Konzepte mit anderen teilen können. Wir haben erstmals letzte Woche einige der Ansätze in einer Open Session von nutrospektif ausprobiert und waren sehr erfreut, zu sehen wie die Teilnehmer*innen diese umsetzen.
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Die Residenz ist ein Projekt von SPRUNGBRETT < > TANZRECHERCHE NRW, ein Kooperationsprojekt von tanz nrw 19 und NRW KULTURsekretariat.
Auch Greta Salgado Kudrass, Constanza Ruiz Campusano und Amanda Romero Canepa haben zwei zweiwöchige Recherche- und Arbeitsresidenzen bei PACT Zollverein und im tanzhaus nrw erhalten. Einblicke in ihre Residenz gibt es ebenfalls im Journal.
Die Ergebnisse ihrer Recherche und Arbeitsresidenz werden im Rahmen des Festivals tanz nrw zwischen dem 08. und 19. Mai vorgestellt.
Viola Luise Barner ist Tänzerin und Choreografin; ihren Bachelor in Tanz hat sie an der staatlichen Universität in Salvador, Brasilien absolviert. Mit urbanen Tanzstilen als Fundament, sammelt sie seit 2010 weitere Erfahrungen vor allem im zeitgenössischen Tanz und Capoeira. Als Teil der Breaking-Gruppen ›Brasil Style Bgirls‹, ›Gang Gangrena‹ und der zeitgenössischen freien Kompagnie ›Núcleo Vila Dança‹ war sie langjährig international aktiv. Viola Luise choreografiert und leitet Kinder- und Jugendprojekte, ist als Gast in verschiedenen Tanzkollektiven tätig und gründete 2017 zusammen mit zwei weiteren Tänzern das Kollektiv ›wildmindflowers‹.
Lin Verleger ist professioneller Tänzer, dessen Tanzstil eine Mischung aus ›Breaking‹ und zeitgenössischem Tanz auszeichnet. Als Teil der Crew ›Reckless‹ gewann er die Deutschen Breakdance Meisterschaften und durfte Deutschland im Folgejahr beim ›Battle of the Year‹ in Montpellier, Frankreich, vertreten. Seit 2010 konzentriert Lin Verleger sich mit seiner Arbeit besonders auf das Tanztheater. Er tanzte unter anderem für Regina Advento (Pina Bausch Ensemble), La Macana, Susanne Linke und Morgan Nardi. Neben seiner Tätigkeit als Tänzer ist er auch als Choreograf tätig. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit studiert er Sportwissenschaft, mit dem Schwerpunkt Tanz an der Deutschen Sporthochschule Köln.
Bahar Gökten ist Tänzerin und Choreografin. Ausgehend von ihrem Fundament in urbanen Tanzstilen, erschließt und entwickelt sie Bewegung aus einer Vielzahl von Ansätzen. Neben ihrem Studium der Erziehungswissenschaften initiiert und leitet Bahar Kinder- und Jugendprojekte. Sie ist Tänzerin der in NRW angesiedelten Kompanie ›Renegade‹ und Teil der seit 2002 bestehenden Breaking Gruppe ›Dirty Mamas Crew‹, mit der sie langjährig international aktiv war. Zusammen mit fünf weiteren Choreografinnen gründete sie 2012 das urbane Tanzkollektiv ›nutrospektif‹, mit welchem sie eigene Bühnenstücke und interdisziplinäre Improvisationsformate realisiert.