TIERWESEN
Pascal Bovée


by Pascal Bovée

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Residenzen

Auf dem Rasen im Kaiser-Wilhelm-Park kniet ein junger Mann mit zerzaustem, rotbraunem Haar. Er sieht sich um, wie um sicherzugehen, dass ihn niemand beobachtet. Fast rutsche ich in den Teich, weil ich mich im Schilf verstecke. Es besteht kein Zweifel, dass er es ist: Newt Scamander. Ich erinnere mich an diese Sommersprossen noch genau. Dann muss ich niesen. Er erschrickt. Hastig zieht er den Reißverschluss seines in die Jahre gekommenen Rucksacks zu, steht auf und verschwindet  schnellen Schrittes in Richtung Zeche Carl. 

Ich folge ihm nicht. Stattdessen gehe ich zu der Stelle, wo Newt Scamander gekniet hat. Auf einer Fläche von etwa einem Quadratmeter, aber oval, sind die Grashalme plattgedrückt. Ich frage mich, was dort gelegen haben mag. Eindeutig war es zu groß, um in diesen Rucksack zu passen. Dann fällt mir der Koffer ein, den er in dem Film bei sich hatte. Sollte das vielleicht ein magischer Rucksack gewesen sein? 

Bis zum Nachmittag streife ich durch den Kaiser-Wilhelm-Park. Ich begegne niemandem, außer zwei Schülern auf dem Weg zum Gymnasium und einem Skater. Dann, nach stundenlangem Suchen, entdecke ich schließlich etwas, das meine Vermutung bestätigt. Am westlichen Rand des Parks unweit der U-Bahnstation liegt eine Tierleiche. Allerdings keine für deutsche Großstädte gewöhnliche. Es ist eine Riesenschildkröte, die keinen Kopf mehr besitzt. Ihr moosbewachsener Körper ist zu Stein erstarrt. Dem Anschein nach ist sie auf untypische Weise ums Leben gekommen. Bei einem magischen Gefecht? Ich möchte nicht gleich übertreiben. Jedoch ist die Versteinerung der Kröte nicht allein durch  Sonneneinstrahlung erklärlich. Ich rechne zwei und zwei zusammen. Die Schildkröte muss ein Artgenosse des kleineren Tieres gewesen sein, das Scamander neben dem Teich aufgelesen hat. Vielleicht war es die Mutter. Ein grausames Verbrechen muss hier geschehen sein. In diesem Moment fasse ich einen Entschluss: Ich werde meine Kolumne dem Schutz phantastischer Tierwesen in Essen widmen.

Denn die Steinschildkröte ist kein Einzelfall. Nicht zum ersten Mal bin ich in Essen einem Wesen anderer, übernatürlicher Art begegnet. Stein schien für die meisten von ihnen eine Rolle zu spielen. Ich erinnere mich an den mächtigen Steinadler, der das Grab der Familie Krupp in Bredeney bewacht. An den King Kong Kater, der mit seinem riesigen Staubsaugermaul die Mauern des Nordviertels aufzusaugen drohte, als ich dort im neuen Universitätsviertel recherchierte. Wenn es aber solche phantastischen Tierwesen in dieser Stadt gibt, dann muss es hier auch noch weitere Sucher wie Scamander geben. Ich google nach Artikeln aus dem Ruhrgebiet, die im Zusammenhang mit „Fauna“ und „phantastisch“ stehen. Und tatsächlich: Die Liga zum Schutz phantastischer Tierwesen besitzt eine Sektion Ruhrgebiet. Ihr Hauptsitz: Essen-Katernberg.

Am Katzenbrunnen auf dem Marktplatz wartet Ahmed auf mich. Der Zwölfjährige gilt als ein profunder Kenner der ichthyologischen Vorkommnisse im Essener Norden. Er gibt mir die Hand, während er mich eindringlich mustert und eine Augenbraue hochzieht. 
„Wo ist denn deine Badehose?“, frage ich ihn verwundert.  
„Brauchen wir nicht“, entgegnet Ahmed. 
„Ich dachte, wir suchen Fische.“
„Schwimmer“, korrigiert mich der junge Artenschützer. „Die sehen nur so aus wie Fische.“ Dann fängt er an zu grinsen. „Bist du so mit der Bahn gefahren?“  
Als Schwimmer bezeichnet der Vorsitzende der Liga zum Schutz phantastischer Tierwesen, Sektion Essen-Katernberg  solche Wesen, die sich unter normalen Umständen im Wasser aufhalten müssten. Dass sie das jedoch nicht tun, macht sie zu Fabelwesen – und damit zu Schutzobjekten der Liga. 
„Hier in Katernberg ist das bevorzugte Medium der Schwimmer der rote Backstein“, erklärt Ahmed. 
„Du meinst, die Fische schwimmen durch Wände?“
„Exakt.“
Gibt es da womöglich einen Zusammenhang zu der Schildkröte im Park? Und den anderen Tierwesen, die mir schon vorher begegnet sind? Vielleicht war die Schildkröte deshalb aus Stein, weil sie durch Ziegel geschwommen ist und nicht durch Wasser? Ahmed will das nicht beurteilen, ohne die Kröte gesehen zu haben. Er nimmt mich zunächst einmal mit zu einem Kiosk, an dem sich die Katernberger Liga trifft. Unter der rotweiß gestreiften Markise plätschert ein Springbrunnen. Zwei glitzernde Koi-Karpfen schwimmen darin.
„Die können also durch Mauern schwimmen?“
„Quatsch.“ Wieder muss Ahmed über meine Naivität lachen. „Hier sind wir, um mir ein Wassereis zu kaufen. Meine Bezahlung dafür, dass ich dir Katernberg zeige, wie es wirklich ist.“ 
Ich kaufe Ahmed ein Waldmeister-Eis und mir ein Brötchen mit Remoulade, aber ohne Fisch. Dann führt mich der Zwölfjährige zu einem ehemaligen Gebäude der Zechenverwaltung. Davor steht auf einem Rasenstück eine niedrige, rote Backsteinmauer. Über eine Länge von anderthalb Metern kreuzt dort ein Fisch mit einem langen, säbelartigen Maul.
„Historisches Exemplar“, erklärt Ahmed. „Das siehst du, weil der Fisch schwarzweiß ist.“ 
Der historische Schwertfisch ist erst der Anfang. Auf unserer Tour durch Katernberg entdecken wir viele weitere, den Ziegel bevölkernde Fische. So hat ein Regenbogenfisch sich einen Kirchplatz als Habitat gewählt. Erklären kann sich Ahmed den phantastischen Fischschwarm an diesem Standort nicht. „Auch in Borbeck soll es Fische geben“, sagt er. „In einem Parkhaus. Unten ist eine Spielhalle drin, da schwimmen Mantarochen rum und eine Gruppe Delfine.“

So begann mein Leben als Sucher. In den nächsten Jahren streifte ich auf den Spuren geheimnisvoller, phantastischer Tierwesen durch die Essener Stadtteile, begab mich in Grubenschächte, leer stehende Ladenlokale, in die Kanalisation, auf verfallene Bergmannsfriedhöfe und die Dächer von Hochhäusern. Überall dort ging ich hin, wo sich bedrohte Individuen vor der Zivilisation verstecken. Manche Wesen, aus Stein und aus Fleisch und Blut, konnte ich mithilfe meines PACT-Rucksacks in Sicherheit bringen. Viele der Wesen, auf deren Spur ich mich begab, waren aber auch bei meiner Ankunft am Ort ihrer letzten Sichtung bereits verschwunden. Weder den Wal, der durch das Museum Folkwang geschwommen sein soll noch das Car-Mäleon an der A52-Brücke in Bredeney, ehemaliges Maskottchen einer Oldtimer-Werkstatt, konnte ich ausfindig machen. Die Mitarbeiterin der Wellness-Oase, die sich dort seit kurzem befand, wusste von nichts. Für Hinweise zum Verbleib dieser Wesen ist die neu eingerichtete Liga-Zentrale in Essen-Nord/PACT Zollverein jedoch außerordentlich dankbar. Sollten Sie eines der erwähnten oder weitere phantastische Tierwesen in Essen gesichtet haben, schreiben Sie bitte an: liga-phantastica@posteo.de

Nachtrag: Das Car-Mäleon ist inzwischen aufgespürt und in einen sicheren Verbleib gebracht. Vielen Dank an Heidemarie Krange aus Haarzopf für den Hinweis und das Foto des Tierwesens.

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