Veronesergrün – Fortsetzung
Streifzüge durch die Stadt Essen


by Pascal Bovée

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Residenzen

Die Details meines Toilettengangs erspare ich Ihnen, aber meine Rettung ist das »Grossstadt Deli«, ein Premium-Café mit drei S in der Mitte und zwei Toiletten neben der Theke (P01 S03 T02). Ich gönne mir dort einen Cappuccino und greife nach den beiden Magazinen, die auf dem Tisch liegen. Playboy und Gentlemen Quarterly. Beide beschäftigen sich in der aktuellen Ausgabe mit »Chronometern.« Der Reporter von GQ hat den »27. Salon International de la Haute Horlogerie« besucht und mir die wichtigsten Trends aus Genf mitgebracht. Besonders innovativ/zeitlos/klassisch: die geniale Da Vinci. Neun Zeiger auf dem Zifferblatt. Das ist nicht verwirrend, das ist chronisch. Für den Maler, Erfinder, Allrounder. Für den, dem Zeit unbezahlbar ist und der mit dieser Armbanduhr aus ihr emporsteigt wie nach seiner Renaissance. Zeit zum Erobern, Motto: »Veni, Vidi, Da Vinci«. Ein Grund zum Feiern auch der Luminator. »Eine Sensation«, bemerkt der GQ-Reporter zurecht: Das Display erstrahlt in Veilchenblau. Selbst die Haute Horlogerie lässt sich vom Essener Farbleitsytem inspirieren? Da winkt der Red Dot Design Award. Die 50000 Euro ließe auch ich mir den Luminator gerne kosten, könnte man in Genf damit bezahlen. Kann man?

Der Student am Tisch gegenüber weiß das vielleicht, er versteht etwas mehr von Wirtschaft. Gleich werde ich ihn danach fragen, aber im Moment ist er zu sehr ins Schwärmen geraten. Er möchte gerne hier wohnen. Zwischen Uni und premium Deli, in der grünen Mitte der Grossstadt.

»Gross«, sagt eine amerikanische Studentin mit türkisen Fingernägeln. Sie sitzt an einem anderen Tisch und lacht. Ich lese mittlerweile Playboy und bringe deshalb die beiden Gespräche durcheinander.

»Ist mir heute morgen irgendwie zum ersten Mal aufgefallen, wie geil das wäre«, sagt der BWL-Student.

»Echt?« Seine Kommilitonin wundert sich, glaube ich, aber lächelt genauso trainiert weiter wie vorher. Leonie heißt sie. Mir fallen die Namen der Schülerinnen aus der dritten Klasse ein, die ich vorhin von einem Schild an der Nordviertelgrundschule abgeschrieben habe. Ich krame im PACT-Rucksack. Schaimah, Hülya, Sarmina, Rachida, Marijan, Yasmin, Stefania, Meroua, Princess. Und Leonie. Statistisch betrachtet wird nur eine von ihnen Abitur machen. Und zwischen den Uni-Seminaren hier Kaffee trinken?

Gross: Im Editorial des Playboy verteidigt der Sohn des Magazingründers Hugh Hefner seine Freiheit gegen Donald Trump. »That makes a lot of sense«, sagt die amerikanische Studentin. »Hab mal die Eigentumspreise gecheckt«, sagt der junge Ökonom. Er meint es ernst mit der Investition in der grünen Mitte. Ich stelle mir vor, wie Leonie und er hier eine Wohnung kaufen, eine Familie gründen und ihre Tochter auf die Nordviertelgrundschule schicken. Zwölf Jahre später schreibt sie sich an der Uni Essen ein. Sie geht zur Vorlesung in einen veilchenblauen Raum. Betriebswirtschaftslehre.

Der Manager, dessen Profilbild der Student seiner zukünftigen Frau jetzt auf dem Handy zeigt, hat »den krassesten Lebenslauf, den du je gesehen hast.« Er hat bei mehr Marktführern gearbeitet als Moritz Bleibtreu Nacktmodels kennt, auch wenn das seinem Playboy-Interview zufolge einige sein müssen. Der Schauspieler spricht über den Unterschied zwischen deutschen und amerikanischen Frauen. Locker room talk contra Trump. Meine Fantasie betritt schon wieder einen anderen Farbraum. 2022. Die 45. Präsidentschaft ist vorbei. Donald Trump ist jetzt wieder ganz normaler Bauunternehmer. Durch die Glastür betritt er das Essener Grossstadt-Deli, um sich mit einem smarten, jungen Immobilienfonds-Manager zu treffen, der mit seiner jungen Familie gleich hier um die Ecke wohnt. »Welche Rendite bringt es, wenn ich hier in nachhaltige Stadtentwicklung investiere?«, fragt der Ex-Präsident und blättert im Playboy.

Wollte der nicht aufhören mit nackt? Das Magazin, meine ich. Ich blättere zurück zum Editorial, vorbei an Models, deren Nationalität mir weniger eindeutig erscheint als den Experten aus der Schauspielbranche und lese vorne das Motto der Ausgabe: »Back to the Boobs.«

»Das ist mega, oder?«, sagt der Student. Und meint noch immer die Vita seines Vorbilds, das nur zwei Jahre älter ist als er, aber schon ein Dutzend internationale Stationen weiter. Leonie nickt, aber ist mit den Gedanken woanders.

Da bekomme ich einen Ohrwurm. Ab in den Süden. In welchem Jahrzehnt leben meine Ohrwürmer? Oder war das der Titel des Urlaubsangebots von Lidl? Ich liege am südfranzösischen Strand, Hauptberuf Playboy. Ich trage Da Vinci. Ich kite-surfe, verbessere nachmittags mein Handycap und trinke abends Cocktails auf der Privatjacht von Sarkozy. Inspiriert dieses Viertel zu krassen Karrieren? Ich klappe den Laptop zu.

Für Karriere ist es nie zu spät, aber mit Verstand. Also gehe ich direkt zur Agentur für Arbeit am Freistein. Der Weg führt wieder durch die Blumenfeldstraße. Blumenfeld war der Gründer des Männergesangsvereins, steht auf dem Straßenschild, von Tannengrün könnte ich ihn singen hören, doch der Ohrwurm vom Süden ist stärker. Schnell vorbei an zwei innogy-grünen Plakaten (I02), die sind omnipräsent, so dass die Wahrnehmung sie beinahe ausblendet, doch ich nehme sie gewissenhaft mit auf in mein mittlerweile stattliches Verzeichnis von Essener Grüntönen. Ebenso das Schimmelgrün am Militärdenkmal. Die Ziffern der gerühmten Kriegsjahre sind ausgefallen wie faule Zähne (S187). Die Generäle, deren Chronometer kaputt sind, wurden rund um den Freistein mit Straßennamen dekoriert. Lützow, Bülow und Scharnhorst treffen sich in Essen jetzt montags an der Agentur für Arbeit. Mit Schaumwein stoßen sie an. Auf alte Zeiten oder eine neue Stelle? Mit der Flasche in der Hand dürfen sie jedenfalls nicht in das öffentliche Gebäude hinein. Der Security-Mitarbeiter guckt schon ganz böse. Ich grüße gehorsamst und gehe vorbei. Aber wohin will ich hier eigentlich?

Arbeit findet man im Essener Norden nicht mit einem Farbleitsystem. Dafür mit einem Prisma. Die Spiegel im Treppenhaus spalten und vervielfältigen mich, wie die Falten einer Ziehharmonika bin ich aufgefächert in hundert Gesichter – die vielen Ichs meiner Lebensläufe aus 100 Bewerbungsschreiben, eins ist Pascal und sucht Grün, ein anderes Jean und bloggt Blau, das neueste Armand und sieht schon nichts mehr vor lauter Farbe. Armand kommt aus Arles, die Krise hat ihn hierher gespült, am liebsten ginge er heute noch zurück in den Süden, aber Hauptsache Arbeit. Er versucht jetzt sein Glück im Essener Norden. Zur Jobsuche hat Armand seine besten (das heißt: seine buntesten) Sachen angezogen, trägt den zitronengelben Mantel vom Bewerbungsbild. Tatsächlich gibt es eine passende Stelle für ihn: Gleich um die Ecke, im Frischezentrum. Belastbarkeit wird im Jobprofil verlangt. Dafür müsste ich nichtmal den Lebenslauf ändern. Aber dann steht da noch: »Natürlichkeit«. Das wird schwierig. Dabei brauche ich Hilfe, wenn das nicht konstruiert wirken soll. Mein Freund Tobias kennt sich mit sowas aus. Er ist Bauingenieur, Spezialist für Kanäle und vergleicht Lebensläufe gerne mit Flussläufen. »Die meisten sind begradigt.« Das Wasser fließt viel zu schnell für das Flussbett. Unnatürlich ist das. Also ausgerechnet bei dieser einen Bewerbung fehl am Platze. Tobis Plan ist es, eines Tages Lebensläufe zu renaturieren. Ich rufe ihn an, mit meinem soll er anfangen.

Mit dem Job hat es geklappt. Das bin ich, Armand, im Mai 2017: Melonengrün. Falls du das liest, Tobi, ich bin jetzt tatsächlich Melonenverkäufer. Nicht am Strand in Italien, wie du mir geraten hast. Erstmal nur im Essener Frischezentrum. Aber man braucht noch Ziele für den nächsten Karriereschritt. Verona vielleicht

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