Interview mit Frances Chiaverini und Robyn Doty
›Whistle While You Work‹
Themen
Fellowships
PACT: Ihr habt 'Whistle While You Work' (WWYW) 2017 als eine Online-Plattform (www.nobody100.com) initiiert, die sich mit dem Thema der sexuellen Belästigung und Diskriminierung in den Bereichen des Tanzes und der Performance beschäftigt. Könntet Ihr uns etwas über den Prozess erzählen, der zu der Entscheidung geführt hat, WWYW zu gründen?
Frances Chiaverini: Die Idee, eine öffentliche Datenbank zu führen, entstand, nachdem wir zu viele Geschichten von Freundinnen gehört hatten, die aufgrund ihres Geschlechts bei der Arbeit alle Arten von Kränkungen erfahren mussten. Aber natürlich ist es mehr als das. Wie viele Menschen musste ich mich mit Anmachen und unangemessenen Kommentaren auf der Straße oder in der Öffentlichkeit auseinandersetzen. Als Teenager wurde ich dann oft sehr ärgerlich und schrie die Leute an oder ließ sie abblitzen, aber nachdem ich das eine Weile getan hatte, wurde ich als das „wütende Mädchen" abgestempelt, das einfach nicht mitmachte. Daraufhin wurde ich noch wütender, was zu einer Art sozialer Isolation führte, die ich nicht mehr wollte, so dass ich es schließlich als Realität akzeptierte. Als ich nach Deutschland zog, kam alles wieder hoch, denn ich erlebte dieselbe Art von offenkundiger Sexualisierung und Objektifizierung, dieses Mal aber bei der Arbeit im Studio. Es störte mich, wie diese tatsächlich als Mittel zum Zweck eingesetzt wurden und wie viele Menschen kein Problem darin sahen. Ich will damit nicht sagen, dass ein solches Verhalten gefördert wurde, aber es wurde auch nicht verhindert, und ich wurde im Gegenteil sogar für meine zu konservative Meinung dazu kritisiert. Ich fühlte mich zunehmend ohnmächtig einem Umfeld gegenüber, das, obwohl es als offen und kreativ angesehen wird, mich von meiner Arbeit als Tänzerin ablenkte und mich meine tänzerischen Fähigkeiten in Frage stellen ließ.
Die Gesellschaft nimmt diese Sorge nicht ernst, es sei denn, sie wird konkret beschrieben durch die Aufzählung jeder kleinsten Übertretung, jedes Blicks, der eine*n zum Objekt degradiert und jedes auf den Körper zielenden Kommentars, der nichts mit der choreographischen Arbeit zu tun hat. Die Menschen zweifeln, solange sie die Geschichten nicht selbst gehört, solange sie keine Beweise vorliegen haben. Unsere Plattform fungiert wie ein Megafon, das laut ausspricht, was passiert ist, damit der Vorfall nicht wie viele "Dinge, die vielleicht nie passiert sind" im Dunkeln verschwindet. Sie soll die Vorfälle ans Licht bringen und sie soll Menschen und ihren Geschichten eine Stimme geben, in einer Situation, in der viele an ihnen zweifeln.
PACT: Wie genau gehe ich vor, wenn ich einen Vorfall melden möchte?
Frances Chiaverini und Robyn Doty: Wir empfehlen so viele Informationen wie möglich über den Vorfall aufzuschreiben. Man sollte sich folgende Details notieren: die Zeit, den Ort, was passierte, wer in der Nähe war, was gesagt wurde, was physisch passierte, welche Gefühle es auslöste, wie das Arbeitsumfeld beeinträchtigt wurde, usw. Sobald man den Vorfall aufgeschrieben hat, kann man ihn an uns schicken, damit wir ihn anonym veröffentlichen oder ihn in unserem privaten Archiv aufbewahren - also nicht online zugänglich gemacht. Wir wollen Zeugen für Menschen sein, die sich nicht sicher sind, was sie tun sollen, indem wir ihren Bericht für den Fall aufbewahren, dass sie aktiv werden wollen.
Zusätzlich können wir die Personen, je nach Bedürfnis, mit Informationen über Antidiskriminierungsstellen in ihren Ländern versorgen, sowie mit lokalen Ressourcen, die sie emotional, physisch und rechtlich unterstützen können.
Da immer mehr Tänzer*innen eine freiberufliche Karriere wählen und da so viele Organisationen im Bereich der darstellenden Künste und des Tanzes keine Abteilung haben, die Beschwerden entgegennimmt und bearbeitet, wollten wir, dass WWYW als eine Anlaufstelle fungiert, an die man sich wenden kann, wenn sonst niemand zur Verfügung steht, auch wenn das Arbeitsverhältnis nur kurz war und eventuell seit längerem beendet ist.
Viele Tänzer*innen und Tänzer beschweren sich nicht, weil sie wissen, dass der Job bald zu Ende ist, und damit auch die Situation, der sie ausgesetzt sind. Das wird oft als die einfachste und schmerzloseste Lösung erachtet. Was daran gefährlich ist - abgesehen davon, dass der Täter oder die Täterin wahrscheinlich andere Opfer finden und weiterhin unangemessene Dinge tun wird - ist, dass das Trauma des Geschehenen in der Seele und im Körper der Person verbleibt, die es erlitten hat. Der Schaden ist angerichtet, und oft muss man hart an dessen Überwindung arbeiten. Wir erfassen die Vorfälle für die Künstler*innen in einer sowohl privaten als auch öffentlichen Aufzeichnung, als einen ersten Schritt im Umgang mit dem Trauma.
Für die Zukunft wollen wir eine Bewertungs-Webseite wie glassdoor oder ratemyprofessors.com entwickeln, die es den Tänzer*innen und Künstler*innen ermöglichen soll, das Arbeitsumfeld und die Arbeitserfahrung mit Choreograph*innen, Tanzkompanien und Institutionen öffentlich zu bewerten. Im Grunde genommen wollen wir den Künstler*innen eine Plattform bieten, auf der sie ihre Erfahrungen - die guten wie die schlechten - diskutieren können. Viele Städte in den USA werden bereits jetzt daraufhin bewertet, wie LGBTQ+-freundlich sie sind, und uns schwebt etwas in dieser Art vor, jedoch intersektional und auf den Kunstbetrieb hin gedacht.
PACT: Wie reagiert Ihr, wenn in diesen Berichten eine Institution oder Person beim Namen genannt werden? Nehmt Ihr Kontakt auf?
Frances Chiaverini und Robyn Doty: Vorfälle wie sexuelle Belästigung, Rassismus oder Homophobie werden oft verschwiegen, und wir wollen die Künstler*innen ermutigen und befähigen, ihre Erlebnisse in den wachsenden Dialog zu Diskriminierung im Tanz einzubringen. Es ist einschüchternd und kann in finanzieller Hinsicht gefährlich sein, sich zu den Themen Diskriminierung und sexuelle Belästigung in den performativen Künsten zu melden und wir möchten ein möglichst stärkendes Umfeld für diese emotional und physisch stressigen Situationen schaffen.
Wenn die Betroffenen eine Person oder eine Institution öffentlich nennen möchten, unterstützen wir sie. Wenn sie Hilfe von uns benötigen, die Polizei die Presse oder die Institution direkt zu kontaktieren, so bieten wir diese an. Wenn sie sich eine private Aufzeichnung ihres Vorfalls (zur späteren Verwendung) von uns wünschen, so tun wir das ebenfalls.
PACT: WWYW wird nicht nur online sichtbar. Ihr gebt auch Workshops, Lectures und erarbeitet Projekte im Kontext tanzbezogener Veranstaltungen. Was geschieht dort? Wie sehen diese aus?
Frances Chiaverini und Robyn Doty: Wir haben unser erstes offenes Forum in Los Angeles abgehalten und ein anderes in Frankfurt. In diesen Foren wollen wir die allgegenwärtige Machtstruktur, die von oben nach unten arbeitet untergraben und anstelle dessen partizipatorische Gespräche anbieten, in denen die Künstler*innen ihre Erfahrungen, Ideen und ihre Lösungsansätze für so komplizierte Fragen diskutieren, wie: „Wie könnte ein struktureller Wandel aussehen?“, „Wie können Künstler*innen aus einem belastenden einen stärkenden Arbeitsplatz erschaffen?“ „Letztlich, wie kann man ein negatives Arbeitsumfeld verändern?“ Wir wollen Kunstschaffende stärken und ihnen den Raum geben, an einer Gesprächspraxis teilzunehmen, zu der sie sonst keinen Zugang hätten. Tänzer*innen und Künstler*innen sind die Basis von Tanz und Kunst und wir wollen, dass sie ihre persönliche Macht erkennen, anwenden und wachsen lassen.
Unsere Workshops bauen darauf auf, dass wir den Tänzer*innen und Künstler*innen die Möglichkeit geben wollen, Selbstverwaltung zu praktizieren, während sie ihre persönlichen und beruflichen Grenzen im Kontext von Improvisationstanz, Bewegung und Organisation verstehen lernen. Wir bieten eine Bewegungspraxis an, die Tänzer*innen und Künstler*innen ermutigt und befähigt, ihre Handlungsfähigkeit zu erkennen und diese Autonomie an ihrem Arbeitsplatz auszuüben.
Bei der Tanzplattform 2018 wurde eine performative Debatte in Zusammenarbeit mit HOOD uraufgeführt. Für die Zukunft planen wir Performances, die Künstler*innen stärken, indem sie Thoreau modifizieren: wir wollen die Stücke erarbeiten, die wir in der Welt sehen wollen.
PACT: Was waren Eure weiteren Beiträge zur Tanzplattform?
Frances Chiaverini und Robyn Doty: Zusätzlich zu der performativen Debatte haben wir einen temporären Buchladen mit über 40 Titeln zu den Themen intersektioneller Feminismus, Performance und Kunstschaffen eröffnet (siehe Bild). Dieser beinhaltete sowohl gedruckte Quellen als auch USB-Sticks mit digitalem Material. Wir haben auch eine frei erhältliche Informationsbroschüre erstellt, die Informationen zu Arbeitsrecht und Diskriminierungsgesetzen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und den USA enthält. Sie liefert darüber hinaus Informationen, für diejenigen Tänzer*innen und Künstler*innen, die sich mit sexuellen Übergriffen und Diskriminierungen konfrontiert sehen sowie beispielhafte Sätze, die sie verwenden können um für sich selbst einzustehen und Fragen, die sie für den Dialog innerhalb ihrer eigenen Communities nutzen können.
Außerdem veranstalteten wir eine Diskussionsrunde mit den Tanzplattform-Teilnehmer*innen um eine Idee der Situation im deutschen Tanz zu bekommen. Sexuelle Übergriffe, Missbrauch und Geschlechtsdiskriminierung standen auch im Mittelpunkt der #MeToo-Debatte, die die kulturelle Landschaft bereits verändert hat. Aber der Fokus lag bislang überwiegend auf Prominenten und während die Diskussion vorwiegend um diese Fälle kreist, sehen wir, dass gewisse Strukturen, die die Ungleichheit der Geschlechter und sexuelle Übergriffe erlauben, weiterhin existieren.
Glaubt Ihr, dass das Veröffentlichen von individuellen Fällen zu einer größeren systematischen Aktion führen kann?
Frances Chiaverini: Ich glaube, dass das Veröffentlichen persönlicher Berichte zu einem Umdenken führen kann. Wenn wir nach Florida, zum letzten Amoklauf an einer Schule blicken, so nutzten die Schüler*innen dort anschließend ihre Macht in den sozialen Medien sowie ihre Wirtschafts- und Klassenprivilegien um ihre Ablehnung der aktuellen Waffengesetze auszudrücken. Obwohl Amokläufe seit langer Zeit in den USA geschehen, scheint dieser besondere Vorfall der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, denn viele Schüler*innen und Bürger*innen haben daraufhin mit unterschiedlichsten Aktionen begonnen, die nicht länger ignoriert werden konnten. Ich kann mir eine vergleichbare Situation in jedem Berufszweig vorstellen, natürlich auch im Tanz. Wir mögen noch ganz am Anfang stehen und auf Widerstand und Zweifel stoßen, aber je mehr veröffentlicht wird, je mehr wir darüber sprechen, je mehr wir unser Missfallen mit der aktuellen Situation ausdrücken, desto wahrscheinlicher ist es, dass auch hier das Fass zum Überlaufen gebracht werden kann.
Robyn Doty: Alles geschieht nach und nach, das mag ein Vor- oder Nachteil sein. Persönliche Geschichten im Sinne von #metoo zu veröffentlichen wird nicht sofort die Gesetzgebung ändern, aber es erhöht das Bewusstsein, dass ein unfassbar großer Prozentsatz von Menschen sexuelle Nötigung oder Diskriminierung erfahren haben. Viele Länder haben bereits Gesetze, die ein diskriminierendes, erniedrigendes und feindseliges Verhalten verbieten, aber dennoch existiert es auch dort nach wie vor.
Frances Chiaverini und Robyn Doty: Wenn Künstler*innen und Tänzer*innen erkennen, dass Diskriminierung und Übergriffe nicht nur sie betreffen und dass sie etwas dagegen unternehmen können, dann kann systematisch gehandelt werden. Sie müssen aktiv das Arbeitsumfeld und die Behandlung einfordern, die ihnen als Menschen und als Künstler*innen zusteht. Kompanien, Choreograph*innen und Institutionen müssen die Verantwortung übernehmen und Veränderungen vornehmen, wenn sie auf Missstände hingewiesen werden.
Was muss in der Tanzwelt geschehen, um einen systematischen und strukturellen Wechsel zu erreichen?
Frances Chiaverini: Das ist genau die Frage, die wir uns gegenseitig in den Foren stellen! Dies ist die Zeit unsere kollektive Kreativität, Intelligenz, unsere Meinungen und Beziehungen zu bündeln um endlich die richtigen Schritte hin zu einer Veränderung zu machen.
Robyn Doty: Ehrlich gesagt ist Tanz nur eine Spiegelung der gesamten Welt. Was sich im Tanz verändern muss, muss sich an allen Arbeitsplätzen verändern: Frauen, Menschen verschiedener Hautfarbe oder Religionszughörigkeit, LGBTQ+ usw. müssen genauso ernst genommen werden, wie weiße Männer. Viel zu lange hatten weiße (heterosexuelle) männliche Stimmen und Körper die Machtpositionen inne und diese Macht muss nun auf alle umverteilt werden. Die Förderung von Tanz, der von Frauen, Menschen verschiedener Hautfarbe, queeren Menschen usw. choreographiert wird, ist ideal. Wir können die Macht, die Menschen haben, nicht sehen, wenn Kompanien und Institutionen keinen Zugang dazu gewähren. Selbst heute werden nur wenige Kompanien, von Menschen diverser Herkunft organisiert und künstlerisch sowie finanziell geleitet. Das muss sich ändern. Weiße (homosexuelle) Männer sind nicht die einzigen Menschen, die choreographieren und eine Kompanie leiten können; es gibt so viel potenzielle Kraft und Kreativität, die auf diese Art und Weise aus der Tanzszene ausgeschlossen wird. Für die Arbeitsumgebung ist es sehr wichtig, dass ein professioneller Raum geschaffen wird, in dem Rassismus, Sexismus und Homophobie usw. keinen Platz haben. So viel Diskriminierung geschieht, ohne dass die Choreograph*innen oder künstlerischen Leiter*innen sie kommentieren oder Änderungen vornehmen (und oft sind es gerade sie, die für die Diskriminierung verantwortlich sind). Diese Menschen müssen ihre Macht verlieren.